Etwas neu zu entwickeln, ist eine intensive Erfahrung. Das Datum der Veröffentlichung kommt langsam immer näher und das Team sieht sich einem Sturm der Emotionen ausgesetzt. Nach all den Monaten, in denen wir einfach alles für das Produkt gegeben haben, fragt man sich „Ist es fertig?“. Ist es denn jemals wirklich ganz fertig? Wie werden unsere Nutzer reagieren? Werden sie es toll finden oder schrecklich? Oder ein bisschen von beidem? Und wie fühlen wir uns dabei? Wir spüren Angst, Panik, aber auch Optimismus und sogar Euphorie.
Wir haben die Ziellinie erreicht.
Vor etwas über einem Monat haben wir Evernote 8 der Welt vorgestellt. Nach der Veröffentlichung der neuen Version habe ich überlegt, wann wir das Design zuletzt umfassend aktualisiert hatten. Das war 2013.
Die Evolution von Evernote für iPhone
Zurück in die Vergangenheit
Als Apple im Juni 2013 das umstrittene Flat Design von iOS 7 vorstellte, wurde eine neue Bewegung beim Design von mobilen Apps geboren. Skeuomorphismus war Schnee von gestern: keine ausgeprägten Schlagschatten, Texturen oder Muster mehr. Dies war ein radikaler Wandel und niemand wollte da zurückbleiben.
Als ich die Ankündigung von Apple in einem Konferenzraum in der Evernote-Zentrale sah, fragte ich mich, was das wohl für uns bedeuten würde. Es wurde dann bald klar, dass wir in Richtung neues Design arbeiten mussten, wenn wir weiterhin eine Rolle spielen wollten. Die Herausforderung war, das Ziel unseres Teams zu erreichen: Bereits am Tag 1 der Veröffentlichung von iOS 7 im App Store vertreten sein. Und das war zu dem Zeitpunkt nur mehr drei Monate entfernt.
Sich eine komplette Design-Neugestaltung dieser Größenordnung in einem Zeitraum von drei Monaten vorzunehmen, war nicht unbedingt sehr erfolgsversprechend, aber wir haben das Unmögliche geschafft.
Wir waren jedoch nicht auf die allgemeine Reaktion vorbereitet. Ich muss natürlich sagen, dass wir viele positive Rückmeldungen von Nutzern und der Presse bekommen haben und sogar in der Keynote-Rede von Apple erwähnt wurden. Aber die nicht so zufriedenen Nutzer? Ihre Meinung war unüberhörbar: Die App sei nun unübersichtlich, die Benutzeroberfläche nicht intuitiv, Funktionen würden fehlen und mein persönlicher Favorit: Wir würden dieses grässliche Grün viel zu oft verwenden.
Wir verstehen das natürlich. Änderungen sind nicht einfach, besonders wenn sie sich auf die tägliche Produktivität auswirken.
Da wir nur so wenig Zeit hatten, konnten wir keine ausführlichen Usability-Tests durchführen oder die Beta-Community befragen. Dies hätte sich aber bestimmt auf das gelieferte Produkt ausgewirkt.
Evernote-Version 7.8
Neue Designs sind manchmal einfach notwendig. Für mich, meine Kollegen und ehrlich gesagt für alle bei Evernote war es unglaublich wichtig, aus den Fehlern in der Vergangenheit zu lernen und diese nicht zu wiederholen.
Diesmal wird alles besser
Ein paar Jahre später haben ein paar Designer und ich 2015 einen genaueren Blick auf die Navigation in Evernote geworfen, um die Bereiche zu erkennen, die verwirrend waren und verbessert werden könnten.
Es wurde schnell klar, dass die Probleme in der Navigation keiner oberflächlichen Kosmetik bedurften und nicht durch das Verschieben von ein paar Elementen gelöst werden konnten. Zugrundeliegende Probleme kamen zum Vorschein. Das Nutzerwachstum und die Interaktion mit Nutzern stagnierten. Andere Produktivitäts-Apps waren uns Welten voraus und streiften alle unsere unzufriedenen Kunden ein.
Wir erkannten, wie ineffizient und schwerfällig unsere App geworden war. Das Erstellen von Notizen und das Wechseln zwischen ihnen dauerte länger als es sollte. Wir alle verwenden Evernote für unsere wichtigen Arbeitsabläufe, aber damals begannen sogar wir, andere Apps für das schnelle Erfassen von Notizen zu verwenden. Es ist zwar demütigend, dies zuzugeben, aber die Zeit für eine Änderung war gekommen.
Wir erkannten, wie ineffizient und schwerfällig unsere App geworden war.
Wir setzten uns also ein Hauptziel: die Effizienz steigern. Als Team entschieden wir uns dazu, uns diesmal mehr Zeit zu nehmen, neue Möglichkeiten zu entdecken und Feedback einzuholen. Wir konnten es uns nicht leisten, das neue Design zu überstürzen und es nicht richtig hinzubekommen.
Ich war damals das einzige Teammitglied, das auch beim vorherigen Redesign mit dabei war. Ich konnte also als Einzige all das einbringen, was wir damals gelernt hatten. Mir wurde dann die Leitung des Vorhabens übertragen. Es stand viel auf dem Spiel und ich war fest entschlossen, es richtig zu machen.
Erste Schritte
Zuerst mussten wir festlegen, worauf wir uns konzentrieren sollten.
Wir durchforsteten unsere Foren, um herauszufinden, worüber unsere Nutzer am meisten sprachen. Was waren die häufigsten Anfragen und Beschwerden? Wir führten Umfragen unter Nutzern durch, um zu erfahren, wie neue Nutzer die App fanden, welche Funktionen am beliebtesten waren und was Verwirrung stiftete. Wir befragten auch unsere Kollegen, um zu wissen, was für sie am wichtigsten war und welche Verbesserungsvorschläge sie hatten.
Wir fassten die Ergebnisse zusammen und waren nicht überrascht, dass viele Bedenken sich durchgehend wiederholten.
Schwierige Design-Entscheidungen
Im Laufe eines Redesigns müssen Millionen Entscheidungen getroffen werden. Manche sind nur klein und fallen auch leicht, aber andere sind qualvoll und schwierig. Hier findet ihr ein paar der Herausforderungen, denen wir uns stellen mussten.
Notizen in Windeseile erstellen
Da unsere Hauptziele Geschwindigkeit und Effizienz waren, wollten wir uns besonders auf „Zeit bis Notiz“ konzentrieren, d. h. wie lange es dauert, um eine Notiz zu erstellen. Dieser Begriff wurde von unserem CEO, Chris O’Neill, geprägt. Nutzer sollten die App öffnen und direkt in eine neue Notiz springen können, mit so wenig Ablenkung wie möglich.
In der Evernote-Version 7.0 wurden unmittelbar fünf Optionen zum Erstellen einer neuen Notiz angezeigt: Text, Foto, Erinnerung, Liste und Audio. Das Problem war, dass Nutzer jedes Mal aufs Neue auswählen mussten.
Wir fragten uns: Möchten Nutzer wirklich immer so viele Optionen sehen? Oder verlangsamen wir den ganzen Ablauf, indem wir Nutzer immer zur Auswahl auffordern? In diesem Fall half uns ein Blick auf die Daten dabei, eine Antwort auf diese Fragen zu finden.
Wir fanden heraus, dass Nutzer fast immer Textnotizen erstellten.
Optionen zum Erstellen von Notizen in der Evernote-Version 7.8
In der Version 8.0 haben wir eine große grüne Schaltfläche in der Tableiste unten angebracht. Die Schaltfläche liegt somit praktisch etwas über eurem Daumen, wenn ihr euer Smartphone in der Hand haltet. Die Frage war dann, was soll genau passieren, wenn ihr darauf tippt?
Die markante Plusschaltfläche bietet schnellen Zugriff auf neue Notizen
Mit dieser einen Schaltfläche hatten wir mehrere Optionen. Die einfachste und womöglich offensichtlichste Option war, unser Design für Android zu kopieren: auf die Plusschaltfläche tippen und mehrere Optionen werden eingeblendet. Einige unserer Designer wiesen auf andere iOS-Apps wie Dropbox hin, die ähnlich vorgingen. Aber war das besser als gleich mehrere Schaltflächen gleichzeitig zu sehen?
Stattdessen schlug ich vor, dass direkt und ganz einfach eine neue Notiz geöffnet würde, wenn man auf die Schaltfläche tippt. So kann man eine Idee zuerst einmal festhalten und anschließend ein Foto oder andere Inhalte hinzufügen.
Um auch das Erstellen anderer Notizen zu optimieren, zum Beispiel, wenn ihr ein Foto macht, ein Dokument scannt, eine Erinnerung erstellt oder Audio aufnehmt, haben wir die Geste des längeren Drückens eingeführt. Ihr könnt also auf die Schaltfläche tippen, um eine Notiz zu erstellen, oder sie gedrückt halten, um eine andere Option auszuwählen.
Längeres Drücken der Plusschaltfläche bringt weitere Optionen zum Vorschein
War diese Lösung die richtige Entscheidung? Es ist noch zu früh, um das eindeutig zu beantworten. Funktionen hinter einer Geste zu verstecken, ist definitiv riskant. Einige Nutzer werden diese Funktion des längeren Drückens nie entdecken, auch wenn wir unsere Nutzer natürlich über diese Option informieren. Ich hoffe, dass es der richtige erste Schritt war und es für eine einfache und effizientere Handhabung sorgt.
Auf der Suche nach einem neuen Zuhause für Notizbücher
Schon seit der allerersten Version von Evernote für iPhone, waren Notizbücher immer ganz oben in der Navigationsstruktur zu finden. Es gab einen Abschnitt für alle Notizen und einen für Notizbücher.
Als wir mit dem neuen Design loslegten, hinterfragte ich die Gültigkeit und Notwendigkeit dieser heiligen Regel. Notizbücher sind im Prinzip Ordner und Nutzer mussten diese ständig öffnen und wieder schließen, um zwischen Notizbüchern zu wechseln. Man konnte nicht einfach zwischen ihnen hin- und herwechseln, wie dies in unseren Desktop-Apps möglich ist. Multitasking konnte da ganz schön nervig sein. Einige unserer Nutzer fragten sich auch, warum wir „Alle Notizen“ und Notizbücher überhaupt trennten.
In einigen ersten Designideen überlegten wir, ob wir die Trennung von „Alle Notizen“ und Notizbüchern beibehalten sollten. Aber die Usability-Tests zeigten, dass damit nicht wirklich die zentralen Probleme gelöst wurden. Wir haben es dann mit dem Abschnitt „Vor Kurzem verwendet“ versucht, aber das war für die Nutzer nur verwirrend.
Einige der ersten Ideen für die Navigation in Notizen und Notizbüchern
Ich wollte etwas komplett Anderes ausprobieren. Was wäre, wenn Notizbücher ganz einfach zum Filtern der vollständigen Notizliste eingesetzt werden könnten?
Ich hatte ein Muster in der iBooks App gesehen, bei dem durch das Tippen auf den Titel „Alle Bücher“ oben ein Menü geöffnet wurde, in dem andere Sammlungen wie Audiobücher und PDF-Dateien zu finden waren. Wir könnten ein ähnliches Interaktionsmodell für das Wechseln zwischen Notizbüchern verwenden.
Auf den Titel in der Navigationsleiste tippen, um die Liste der Notizbücher aufzurufen
Das war ein Umbruch. Ich wollte, dass wir etwas außerhalb der herkömmlichen Strukturen machten, und ich folgte dabei nicht den allgemeinen iOS-Mustern. Ich bekam ein paar Gegenstimmen von unseren Produktdesignern, und das zu Recht. Ich bin sehr dankbar, ein Team zu haben, das keine Angst hat, meine Entscheidungen zu hinterfragen.
Usability-Tests waren der nächste logische Schritt. Wir führten Umfragen mit bestehenden Nutzern und Personen durch, die Evernote nicht kannten. Es war ein ganz neues Paradigma. Würden Nutzer sich zurechtfinden?
Die neue Form der Navigation zwischen Notizbüchern
Die Testphase verlief überraschend gut. Ich war sehr froh (und erleichtert), dass Nutzer zwar nicht unbedingt wussten, was passieren würde, wenn sie auf „Alle Notizen“ tippten, aber die meisten sahen den Pfeil und verstanden, dass man darauftippen konnte. Das stärkte unser Vertrauen unglaublich und half uns dabei, weiterzumachen.
Was waren die Reaktionen?
Evernote 8.0 ist jetzt seit etwas über einem Monat für unsere Nutzer verfügbar und ehrlich gesagt ist die Prüfphase noch nicht beendet. Wir haben Feedback jeder Art bekommen. Es gibt enthusiastische, hoffnungsvolle, verärgerte und enttäuschte Stimmen, aber das war auch zu erwarten.
Die Presse war überwiegend positiv gestimmt und die Zeitschrift Wired hat das neue Design in einem langen Artikel vorgestellt.
„Es ist die schnellste, übersichtlichste App, die das Unternehmen bisher veröffentlicht hat.“ – Wired
Wir haben auch viel positives Feedback von unseren Nutzern bekommen. Einige schwärmen, dass es die bisher beste Version von Evernote sei. Die App sei übersichtlicher, einfacher und die wichtigen Elemente seien in den Vordergrund gerückt. Einige unserer aktivsten und leidenschaftlichsten Nutzer (die oft unsere härtesten Kritiker sind) ließen uns wissen, dass sie die App seit dem Redesign deutlich mehr nutzten. Aber als Designer ist es manchmal schwierig, sich auf die positiven Rückmeldungen zu konzentrieren. Die negativen Stimmen scheinen alles zu übertönen.
Egal, wie klein oder groß – Änderungen an einer App, die von Millionen Menschen genutzt wird, verstimmen einige Nutzer. Es ist unmöglich, alle von den Änderungen zu überzeugen. Aber wir hören zu. Obwohl es schwerfällt, wütende Kommentare durchzusehen, sind wir es den Nutzern schuldig, die sich so sehr auf Evernote verlassen, ihr negatives Feedback zu akzeptieren und zu versuchen, es zu verstehen.
Wir müssen herausfinden, warum Nutzer auf Twitter so wütend über die neue Oberfläche sind. Und wir sind es den Nutzern, die in ihren Meetings jetzt auf den Präsentationsmodus verzichten müssen, schuldig zu überlegen, ob das die richtige Entscheidung war.
Es ist schwierig, aber wir dürfen nicht vergessen zu unterscheiden zwischen Funktionen, die Nutzer nicht mögen, weil sie anders sind (und damit langsamer und irgendwie schwieriger erscheinen), und Dingen, die wirklich nicht funktionieren.
Wir müssen daran glauben, auch wenn wir manchmal danebenliegen, dass wir damit unseren Nutzern, unserer Community und unserem Unternehmen etwas Gutes tun.
Wir haben schon einen langen Weg hinter uns, aber gleichzeitig geht es erst so richtig los!
Kara Hodecker ist Product Design Manager bei Evernote.